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“Der Hobbit”- Flucht aus Goblinstadt-Review

Radagast  der Braune spielt nicht nur im Film "Der Hobbit" eine Rolle (dargestellt von Sylvester McCoy), sondern auch im Tabletop-Spiel.

Radagast der Braune spielt nicht nur im Film “Der Hobbit” eine Rolle (dargestellt von Sylvester McCoy), sondern auch im Tabletop-Spiel.

Ich habe mir “Flucht aus Goblinstadt” gekauft. Ich leicht zu beeinflussende Flasche. Was soll ich sagen? Ich hatte am Vorabend den Film gesehen, mein Weihnachtsgeld brannte mir ein Loch in die Tasche und wie ein Idiot bin ich in den Games Workshop reingewankt und habe es mitgenommen. Die erste Review 2013 zu meinem letzten Impulskauf von 2012.

Ich habe noch nicht einmal vor, ernsthaft ins “Herr der Ringe”-, beziehungsweise wie es jetzt heißt, ins “Der Hobbit”-Tabletop einzusteigen. Ich wollte das Set einfach, um es an Spieleabenden als Heroquest-Abklatsch zu benutzen, wobei einer die Monster und die anderen Spieler jeweils einen Zwerg kontrollieren und dann spielt man damit die im Begleitbuch beschriebenen Szenarien, während man sich nebenher gepflegt volllaufen lässt, indem man immer einen Kurzen trinkt, wenn ein Goblin stirbt. Ich meine, das klingt doch nach Spass, oder? Aber, wie wir alle wissen, hat Spass seinen Preis, vor allem wenn GW beteiligt ist. Der Preis sind in diesem Fall hundert Euro, was “Flucht aus Goblinstadt” zum teuersten Starterset in der Geschichte von Games Workshop macht. Da fragt man sich natürlich als erstes, wofür die ganze Kohle überhaupt draufgeht.

Neben den obligatorischen Miniaturen, die ich später im Detail besprechen möchte, finden sich in der Box ein Grundregelbuch in Softcover-Optik, wie wir es schon aus “Kampf um die Blutinsel” und “Sturm der Vergeltung” kennen, ein Szenarioleitfaden mit Schritt-für Schritt Regeleinführungen, sechs verschiedenen Szenarien sowie allen wichtigen Werten der mitgelieferten Figuren, die allseits bekannten weißen Würfel und ein Maßband. Anstatt der dünnen roten Plastikstäbchen mit den Zollmarkierungen, die man gemeinhin kennt, hat sich GW diesmal wirklich etwas anderes einfallen lassen. Das offizielle “Flucht aus Goblinstadt”- Massband ist ein 24 Zoll langes und 5 Zentimeter breites Monstrum aus braunem Hartplastik. Zum Messen völlig ungeeignet, aber ideal, wenn man Nüsse knacken oder sich gegen bewaffnete Einbrecher verteidigen will.

Hätte eine eigene Folge “Außergewöhnliche Menschen” bei RTL2 verdient

Aber kommen wir zu dem Kaufgrund Nummer eins für dieses meisterhafte Abzockprodukt: Die Miniaturen. Wie bei den meisten GW-Modellen ist die Qualität der Miniaturen ziemlich hoch, obwohl es fast ausschließlich Ein-Teil- oder Snap-Fit-Modelle sind. Die Box enthält alle dreizehn Zwerge, die man auch ohne Probleme wiedererkennen kann (sofern man sich ihre bekloppten und ähnlich klingenden Namen im Vorfeld eingeprägt hat), Gandalf den Grauen und den namensgebenden Bilbo Beutlin, der wahlweise mit Wanderstab oder gezogener Klinge zusammengebaut werden kann. Warum auch nicht. Auf Seiten des Bösen hat man den grotesk übergewichtigen und wie auch im Film beeindruckenden Goblinkönig und seine drei Adjutanten, den winzigen Goblinschreiber samt Tragegeschirr und Kran, einen winzigen Goblinhauptmann und den peitschenschwingenden Grinna, der, ich schwöre es, nie im Film zu sehen ist. Um diese vier Charaktere zu unterstützen gibt es noch die nötige Manpower, sprich 36 Goblinkrieger mit den unterschiedlichsten Waffen. Es könnte sein, dass ich jetzt beim Film einfach nicht richtig hingesehen habe, aber ich glaube, dass die Sculpts der Goblinkrieger deutlich von den gezeigten Goblins abweichen. Während die Goblins im Film dürre, blasse aber ansonsten normalgebaute Typen waren, haben die Goblins aus der Box allesamt offene Pusteln und massive Elephantiasissymptome, die eine eigene Folge “Außergewöhnliche Menschen” bei RTL2 verdient hätten. Ernsthaft: So ziemlich jeder hat einen fleischigen Buckel, ein verfettetes Bein oder eine verwachsene Riesenhand(und die Witze darüber bestimmt satt). Man könnte sich fast überlegen, sie als preisgünstige Alternative zu Fantasy-Ghulen, Seuchenzombies oder Ähnlichem zu nehmen.

Außer den Spielfiguren ist auch Gelände in der Box enthalten. Zum einen der Thron des Goblinkönigs, der nett aber irgendwie uninteressant ist, obwohl er natürlich sehr detailliert gemacht ist, von den Schnitzerein in der Lehne bis hin zu dem prallgefüllten Scheißeeimer darunter. Ernsthaft. Ich habe das überprüft. Der Bottich unter der aufgebrochenen Sitzfläche ist ein original Scheißeeimer! Aber was deutlich wichtiger ist: ein Plattformset, bestehend aus zwei knochenübersäten großen Holzplattformen und vier Zugangsstegen, die beliebig und vor allem klebstofflos arrangiert werden können. Drei der sechs Szenarien werden übrigens nur auf diesen Plattformen gespielt, so dass man das Spiel auch mit Tabletopunerfahrenen spielen kann. Natürlich sind die Stege auch perfekt für andere Spielsysteme wie Freebooters Fate oder Mortheim verwendbar.

Der Jar Jar Binks des Tolkienuniversums

Aber es gibt immer einen Wermutstropfen, und in diesem Fall ist es Radagast der Braune. Die streng limitierte Miniatur, die es so nie wieder geben wird, weswegen GW nicht müde wird, mir zu raten, sie mir jetzt zu sichern. Radagast der Braune. Niemandes Lieblingsfigur aus dem Hobbit. Und wenn ihr jetzt fragt: Wer?: Im Buch wird Radagast als würdevoller, naturverbundener Magier beschrieben, der versucht das empfindliche Ökosystem von Mittelerde im Gleichgewicht zu halten. Im Film ist er ein stammelnder Geisteskranker mit dick verkrusteter Vogelkacke in den Haaren, der einen von Hasen gezogenen Schlitten durch nicht verschneites Gebiet fährt und die ehrenvolle Aufgabe hat, die Laufzeit um circa zwanzig Minuten zu verlängern. Und diesen vollkommen unwichtigen und nervtötenden Nebencharakter, der meiner Ansicht nach schon jetzt der Jar Jar Binks des Tolkienuniversums ist, gibt es jetzt in “Flucht aus Goblinstadt”, für immer eingefroren in einer der würdelosesten Laufposen, die ich je bei einer Miniatur gesehen habe. Wenn ihr die Gelegenheit habt, die Chance versteichen zu lassen, euch dieses Sondermodell zu beschaffen: Nutzt sie. Radagast ist die einzige Figur, die bei mir noch in ihrem Gussrahmen steckt, nicht zuletzt deshalb, weil ich hoffe, ihn in einem halben Jahr für 20 Euro auf ebay an irgendeinen halbblinden Sammler verticken zu können.

Und überhaupt: Warum ist Radagast in dem Set “Flucht aus Goblinsstadt”? Ohne jetzt zuviel verraten zu wollen: Im Film setzt Radagast keinen Fuss nach Goblinsstadt und im Buch tritt er noch nicht mal auf! Wenn man schon ums verrecken eine Special-Miniatur als Kaufanreiz haben möchte, wäre es ja wohl am naheliegendsten, Gollum zu nehmen. Nicht zuletzt deshalb, weil man dann wirklich den kompletten Teil des Films der in den Höhlen stattfindet, nachstellen könnte. Andererseits irgendwo macht es schon Sinn. Eine Miniatur von einem Charakter, der im Film keine vernünftige Rolle hat und nur als Füllmaterial ins Drehbuch gequetscht wurde, wird ohne Sinn und Verstand in ein Spielset gesteckt, in das sie thematisch ebenfalls kein bißchen reingehört. Irgendwie hat das Ganze ja schon eine gewisse folgerichtige Logik.

Das Spiel lebt von den Zwergen

Wie bereits erwähnt sind im mitgelieferten Szenarioleitfaden die Werte und Profile aller Miniaturen des Sets enthalten. Im Großen und Ganzen ist auf Seiten der Guten alles so, wie man es erwartet: Gandalf kann Zaubern(duh!) und Bilbo hat den Ring, der ihn unsichtbar macht, ist aber sonst eher unterdurchschnittlich. Aber das Spiel lebt eindeutig von den Zwergen. Wirklich jeder der dreizehn Mitglieder von Thorin Eichenschilds Gruppe hat mindestens eine individuelle Fähigkeit und eine spezielle Waffe, die ihn einzigartig machen und einem wirklich das Gefühl geben, einen Helden und nicht bloss einen gesichtslosen Frontsoldaten zu spielen.  Das führt auch dazu, dass die Szenarien, in denen meistens nur drei oder vier Zwerge eingesetzt werden, sehr abwechslungsreich sind, vor allem, da in jedem Szenario andere Zwerge beteiligt sind.

Und auch bei den Bösen wurde sich Mühe gegeben. Die Goblins, naturgemäß eher schwach und nutzlos, haben die Fähigkeit, sich gegenseitig bei Nahkämpfen unterstützen zu können, was sie für isolierte Zwerge tödlich macht und der Goblinschreiber kann Verstärkung holen, was den Hordencharakter der Armee noch unterstreicht. Aber am interessantesten ist natürlich der Goblinkönig, der als Monströse Kreatur über eindrucksvolle Spezialattacken wie Zerreißen verfügt und durch seine massige Gestalt Freund und Feind gleichermaßen durch die Gegend werfen kann. Durch diese Fülle an Sonderfähigkeiten, die aber durch den Umfang der Szenarien (3-4 Zwerge, 12 Goblins und ein Goblinheld) gleichzeitig nicht zu überwältigend für unerfahrene Spieler ist, hat das Spiel einerseits eine von Anfang an recht hohe Tiefe, ohne dass der Spielfluss zu verwirrend wird. Ehe ich es vergesse: Sonderfigur Radagast hat natürlich auch seine ganz eigenen Fähigkeiten. Als Zauberer kann er ebenfalls einige Sprüche wirken, aber, was viel wichtiger ist: Er wird von seinem Freund Sebastian, dem Igel begleitet, der ihm eine Extraattacke im Nahkampf einbringt. Der Naturburschenmagier, der sich im Film größte Mühe gibt, den verletzten Igel zu heilen, hat im “Der Hobbit”- Tabletop nichts besseres zu tun, als den armen Igel irgendwelchen dahergelaufenen Goblins ins Gesicht zu hämmern. Info für Adam Troke: Ein Igel funktioniert nicht auf diese Weise. Aber wenigstens ist der Charakter von Radagast jetzt vollends entwürdigt.

Das Gefühl, draufgezahlt zu haben

Um nochmal auf den Preis zurückzukommen: bei dem gebotenen Inhalt dieses Set wäre ein Schnäppchen für 60 Euro und ein fairer Deal für 85 Euro. GW verkauft es für Hundert. Es ist wirklich das erste Mal, dass ich bei einer Starterbox das Gefühl habe, draufgezahlt zu haben. Wie bereits erwähnt, ist das Set bestens geeignet, um es szenariobasiert zu spielen. Alle nötigen Werte sind angegeben, die Szenarien schreiben genau vor, welche Modelle zur Verfügung stehen und das Gelände ist mehr als ausreichend. Will man aber wirklich ernsthaft das Tabletop spielen (warum auch immer), sollte man sich für eine gewaltige Enttäuschung bereithalten, denn, außer für die enthaltenen Miniaturen sind keine Werte angegeben. Und selbst für die sind weder Punktkosten noch Ausrüstungsoptionen vermerkt. Um es also mit selbst zusammengestellten Armeen zu spielen, muss man sich das 65 Euro teure Hardcover-Regelbuch kaufen, denn nur dort findet man die Werte und Armeelisten der kompletten “Der Hobbit”-Reihe, die restlichen Regeln kennt man dann allerdings schon aus dem Starterpack-Buch, so dass man effektiv 65 Euro für ca. 10 DinA4 Seiten rauswirft.

Und wenn ihr jetzt sagt: “Haha, ich bin clever, ich kaufe mir nur das Hardcoverbuch und stelle mir die Armee dann aus Einzelboxen zusammen”: Viel Spass. Sowohl den Goblinkönig, als auch seine Adjutanten sowie Gandalf, Bilbo und die Zwerge gibt es momentan nämlich nur in “Flucht aus Goblinstadt”. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Einstieg in “Der Hobbit” als Tabletop kostet zur Zeit mindestens 165 Euro plus Armeeerweiterungsboxen. Außer ihr spielt Azogs Jäger, die man ohne Modelle aus der Box aufstellen kann. Aber für die gibt´s keinen Armeedeal, also werdet ihr preislich wohl auch ähnlich dastehen. Aber das ist schon das ganze Spielsystem, und hier wollte ich ja nur über das Set an sich reden.

Ein schönes Set, aber sehr teuer

Mein Fazit: Es ist ein schönes Set, man kann es sowohl mit Tabletopveteranen als auch mit Neulingen spielen, und ich finde, dass es sich als HeroQuest-Surrogat durchaus lohnt. Die Miniaturen sind super und wenn man Fan der Filmreihe ist, könnte man fast darüber nachdenken, “Flucht aus Goblinstadt” nur allein deswegen zu kaufen. Auf der negativen Seite: Das Set ist selbst für GW-Verhältnisse übertrieben teuer, es bleibt allerdings zu hoffen, dass der Preis vielleicht in der nicht-limitierten Version(ohne Radagast) etwas annehmbarer sein wird.

Aber für mich ist der Zug leider abgefahren.

Scheiß Radagast.

–von Niko (Schreidechse).

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Ein Kommentar zu ““Der Hobbit”- Flucht aus Goblinstadt-Review”

  1. Poliorketes says:

    Das Set hat immerhin den Vorteil, Dich zu diesem sehr kurzwiligem Review inspiriert zu haben. Danke dafür, habe sehr gelacht. Auf der anderen Seite habe ich am Wochenende Zombicide kennegelernt (wenn auch nicht gespielt, bin kein Zombiefreund) und war doch etwas entsetzt, als ein Kumpel das 80-Euro-Spiel als günstig bezeichnete – da sind 71 Minis drin, die zwar nicht schlecht aussehen, aber deutlich hinter GW-Grundboxfiguren zurückfallen. Descent hat um die 80 ziemlich grottige Plastikfiguren und kostete zu Anfang 70 Tacken – GW-Spieler jammern also auf recht hohem Niveau. Trotzdem sind 100 Euro für diese Box sicher sehr viel.